Wahrheit - Würde - Wissenschaft: Humanismus in Europa

Wahrheit - Würde - Wissenschaft: Humanismus in Europa
Wahrheit - Würde - Wissenschaft: Humanismus in Europa
 
Um die Mitte des 14. Jahrhunderts beschrieb Francesco Petrarca in einem Brief seine Besteigung des Mont Ventoux in der französischen Provence. Am Ziel des beschwerlichen Aufstiegs - so berichtete er - habe er die »Bekenntnisse« des Augustinus aus der Tasche gezogen und die Ermahnung gelesen, nicht in die Welt zu schweifen, sondern sich mit sich selbst zu befassen. Petrarca schildert in dem Brief seine Erschütterung darüber demselben Freund, der ihm einst das Buch des Augustinus geschenkt hatte - allerdings ist der Empfänger fingiert. Das ist die Renaissance in einem Emblem zusammengefasst: Der Humanist erkundet die Welt, und - um sie begreifen zu können - entdeckt er die antiken Denker, die ihn lehren, dass der Mensch vorerst sich selbst erkennen muss.
 
Rund 100 Jahre später erzählte Nikolaus von Kues, er habe auf der See, auf dem Rückweg von Konstantinopel, von wo er den orthodoxen Patriarchen zum Konzil von Florenz begleitete, die göttliche Eingebung seiner Methode der »Docta ignorantia«, der gelehrten Unwissenheit, bekommen, durch die die Unbegreiflichkeit der Wahrheit in Paradoxien dargestellt werden kann. Die Einsicht entstand freilich auch unter dem Eindruck der antiken Schriften, die Nikolaus von Kues in Konstantinopel eingekauft und unterwegs gelesen hatte.
 
In diesem Zeitraum war das Denken des Abendlandes auf neue Grundlagen gestellt worden. Die Perspektive hatte sich von einer theozentrischen auf eine anthropozentrische Welt hin verschoben - nicht mehr Gott war das Zentrum, aus dessen Perspektive alle Handlungen und vor allem alles Wissen gesehen wurde, sondern der Mensch, der allerdings in seinem innersten Grund Gottes Wirken und Weisheit suchte. Alle Wissenschaft, auch die letzte Wahrheit, wurde um der Würde des Menschen willen und aus seinem Selbstgefühl heraus erforscht.
 
Wenn man demnach das Anliegen der Renaissance-Humanisten charakterisieren will, dann bietet sich der Begriff der »Würde« an. In ihm scheinen alle verschiedenen Bestrebungen zusammengefasst. Petrarcas kritisches Verhältnis zur Natur erhebt dieselbe Natur zu einem Objekt der Bewunderung: Mensch und Welt erheben sich gegenseitig. Auch seine polemischen Auseinandersetzungen mit den Wissenschaftlern seiner Zeit oder der Ethik des Aristoteles strebten zugleich nach einer neuen Wertung und Würdigung der Wissenschaften, die zu einer neuen Suche nach den Quellen des Wissens und der Moral führten.
 
Ein Ergebnis davon war der philologische Humanismus, der die Quellenbasis der Philosophie revolutionierte und zugleich die literarische und philosophische Sprache erneuerte. Die Schriften Platons und Aristoteles wurden neu, zum Teil zum ersten Mal übersetzt; die Quellensammlung des Diogenes Laertios zur antiken Philosophie, die Werke des lateinischen Dichters Lukrez, desgleichen die griechischen Kommentatoren zu Platon und Aristoteles sowie die Neuplatoniker wurden entdeckt. In diesem Zusammenhang wurde die Sprache - zunächst rein technisch, aber auch philosophisch - als Medium des Denkens aufgewertet. Die Sprache, die gesprochene ebenso wie die geschriebene, wurde seit Dante und erst recht durch die Humanisten in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Der italienische Humanist Coluccio Salutati zum Beispiel trieb seine Kritik des Schicksalsglaubens mithilfe antiker Vorbilder, vor allem Cicero und Seneca voran, etwa durch scharfsinnige Analyse dessen, was mit Bezeichnungen wie »Glück« oder »Zufall« gemeint sei. So strebten die Renaissancedenker immer wieder danach, über die menschliche kommunikative Sprache - statt über abstrakte Begriffe - zu den zentralen Sachfragen vorzustoßen.
 
Leitend dabei aber war immer die Frage nach dem, was der Mensch ist. Die überkommenen Argumente für die Nichtigkeit der menschlichen Triebe, die Sinnlosigkeit des Handelns gegenüber dem Willen des Göttlichen oder Dummheit und Krankheit unter den Menschen waren ja nicht aus der Welt, wenn Humanisten schrieben. Aber sie wurden zur Rechtfertigung der humanen Existenz in Stärken und Chancen umgedeutet. Speziell auf der Basis der christlichen Offenbarung sollte der Mensch in seiner besonderen Würde, zumindest den Möglichkeiten nach, aufscheinen. Somit beschreibt »Würde« genau jenen Doppelaspekt: einerseits die Würdigung durch Personen, nämlich den Menschen selbst, und andererseits den hohen Rang, der jedem Menschen zukommt, selbst wenn dieser als solcher nicht wahrgenommen und erkannt wird.
 
Wenn sich nun aber die Würde sowohl aus dem Verhalten des Menschen zu sich selbst wie auch zur Natur ergibt, und sich deren Erschließung vornehmlich durch Sprache zeigt, aber auch durch kulturelle Leistungen, dann stellt sich sofort die Frage nach der Wahrheit und nach der Wissenschaftlichkeit des Wissens. Das Wissen war nach Meinung Petrarcas und Anderer unter einer schlechten Sprache verschüttet gewesen. Gerade deshalb musste immer wieder neu die Frage nach dem Ort der Wahrheit und der Sicherheit des Wissens angesprochen werden. Im Denken der Renaissance ist der Mensch der Ort, wo Wahrheit entsteht, wo es sich lohnt, von Wahrheit zu sprechen. Diese ist zugänglich im doppelten Sinn des Wortes: Sie ist nicht grundsätzlich verborgen und auch nicht bloß vom Denkenden erfunden.
 
Paul Richard Blum

Universal-Lexikon. 2012.

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